Zu den Anforderungen an einen Arzt der Allgemeinmedizin, der für den Notdienst eingeteilt ist

BGH, Urteil vom 02.12.1997 – VI ZR 386/96

Zu den Anforderungen, denen ein Arzt für Allgemeinmedizin, der für den Notdienst eingeteilt ist, genügen muß, wenn er zu einem Patienten gerufen wird, der sich in schlechter psychischer Verfassung befindet.

(Leitsatz des Gerichts)

Tenor

Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des 10. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Koblenz vom 25. Oktober 1996 aufgehoben.

Die Sache wird zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen

Tatbestand
1
Die Klägerin nimmt den beklagten Arzt auf Schadensersatz in Anspruch. Sie leidet seit Jahren an einer schizoaffektiven Psychose und befand sich deshalb mehrmals in psychiatrischer Behandlung. Im Jahre 1989 war eine stationäre Behandlung erforderlich. Anfang 1992 traten erneut depressive Verstimmungen auf. Die Klägerin begab sich deshalb in die Behandlung einer Neurologin, die ihr Neuroleptika verordnete.

2
Nachdem bei der Klägerin am 3. März 1992 trotz einer Medikamentengabe eine starke motorische Unruhe mit Verwirrtheitszuständen eingetreten war und die Neurologin, in deren Behandlung sich die Klägerin befand, einen Hausbesuch abgelehnt hatte, wandte sich die Mutter der Klägerin gegen Mittag an die Notrufzentrale. Daraufhin suchte der für den Notdienst eingeteilte Beklagte, ein Arzt für Allgemeinmedizin, die Klägerin auf. Er injizierte ihr intramuskulär eine Ampulle Haldol. Daraufhin begab sich die Klägerin in Begleitung ihres Vaters in das Schlafzimmer im ersten Stock, wo sie sich zunächst in ihr Bett legte. Nachdem ihr Vater das Zimmer verlassen hatte, sprang sie aus dem Fenster und stürzte sechs Meter tief auf einen Betonboden. Dabei zog sie sich erhebliche Verletzungen zu.

3
Die Klägerin wirft dem Beklagten mehrere Behandlungsfehler vor. Die Injektion von Haldol sei kontraindiziert gewesen. Zudem habe ihr ihre Mutter auf Anweisung des Beklagten und in dessen Beisein weitere 15 Tropfen Atosil verabreicht. Diese Fehlmedikamentierung habe sie in eine solche körperliche und psychische Unruhe versetzt, daß sie durch den Sprung aus dem Fenster eine Flucht vor sich selbst gesucht habe. Der Beklagte habe weder eine Untersuchung noch eine ausreichende Exploration durchgeführt und deshalb die akute Suizidgefahr nicht erkannt. Auch habe er es versäumt, ihre Eltern auf die Notwendigkeit einer ständigen Beaufsichtigung hinzuweisen. Durch die Verletzungen, die sie bei dem Sturz erlitten habe, sei sie beruflich aus der Bahn geworfen worden; eine vollständige Wiederherstellung ihrer Arbeitsfähigkeit sei nicht zu erwarten.

4
Die Klägerin begehrt die Verurteilung des Beklagten zur Zahlung eines angemessenen Schmerzensgeldes und zum Ersatz ihres auf 56.596,90 DM bezifferten Verdienstausfalls nebst Zinsen; ferner erstrebt sie (vorbehaltlich eines Anspruchsübergangs auf Sozialversicherungsträger) die Feststellung der Verpflichtung des Beklagten zum Ersatz ihrer zukünftigen materiellen und immateriellen Schäden aus dem Vorfall vom 3. März 1992. Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Das Oberlandesgericht hat dem Feststellungsantrag stattgegeben und die Klage im übrigen dem Grunde nach für gerechtfertigt erklärt. Hiergegen richtet sich die Revision des Beklagten, mit der er die Aufhebung des Berufungsurteils und die Zurückweisung der Berufung beantragt.

Entscheidungsgründe
I.

5
Nach Auffassung des Berufungsgerichts ist der Beklagte der Klägerin aus §§ 823 Abs. 1, 847 Abs. 1 BGB und aus dem Gesichtspunkt der positiven Vertragsverletzung zum Schadensersatz verpflichtet. Ihm seien bei der Behandlung der Klägerin mehrere Fehler unterlaufen. Dabei könne dahingestellt bleiben, ob bereits in der Verabreichung und Medikation von Haldol und Atosil ein Behandlungsfehler zu erblicken sei. Jedenfalls sei dem Beklagten vorzuwerfen, daß er eine ordnungsgemäße Befunderhebung unterlassen habe. Ferner hätte er angesichts des Zustandes, in dem er die Klägerin vorgefunden habe, mangels eigener spezieller psychiatrischer Fachkenntnisse einen Fachkollegen hinzuziehen müssen. Außerdem hätte er unabhängig von dem Ergebnis einer Exploration schon aufgrund des von ihm selbst festgestellten schlechten psychischen Zustandes der Klägerin eine Suizidgefährdung in Erwägung ziehen müssen. Ein weiterer Behandlungsfehler bestehe darin, daß der Beklagte versäumt habe, die Eltern der Klägerin anzuweisen, ihre Tochter ständig zu beobachten und zu beaufsichtigen. Außerdem hätte der Beklagte wegen der Schwierigkeiten einer ständigen Beobachtung in einem nächsten Schritt die Einweisung der Klägerin in eine psychiatrische Klinik veranlassen müssen. Allerdings sei nicht bewiesen, daß diese Behandlungsfehler des Beklagten für die eingetretenen Gesundheitsschäden der Klägerin ursächlich geworden seien. Den Nachteil dieser Unaufklärbarkeit trage jedoch der Beklagte, weil in der Kausalitätsfrage eine Umkehr der Beweislast eintrete. Dies folge daraus, daß die Behandlungsfehler des Beklagten als schwer einzustufen seien. Der Beklagte müsse sich ein Fehlverhalten vorwerfen lassen, das bei Anlegung des für einen Arzt geltenden Ausbildungs- und Wissensmaßstabes nicht mehr verständlich und verantwortbar sei. Er habe die Klägerin in einem Zustand erheblicher motorischer Unruhe vorgefunden, der von Halluzinationen in einem Ausmaß geprägt gewesen sei, das ihm eine eingehende Exploration unmöglich gemacht habe. Gleichwohl habe er der Klägerin lediglich ein Neuroleptikum intramuskulär verabreicht und die Einnahme von Atosil verordnet, ohne zumindest die Wirkung der Medikamente abzuwarten und ohne in irgendeiner Weise für den Schutz der Klägerin Sorge zu tragen. Dieses Vorgehen stelle einen elementaren Verstoß gegen die ärztliche Sorgfaltspflicht dar.

II.

6
Diese Erwägungen halten den Angriffen der Revision, soweit sie sich gegen die Beweislastverteilung in der Kausalitätsfrage richten, nicht stand.

7
1. Zwar erweisen sich die Erwägungen des Berufungsgerichts im Ansatz als zutreffend. Nach der ständigen Rechtsprechung des Senats kann es bei der haftungsbegründenden Kausalität ausnahmsweise zu einer Umkehr der Beweislast kommen, wenn ein grober Behandlungsfehler festgestellt ist, vorausgesetzt, daß dieser Fehler zur Herbeiführung des Schadens geeignet ist (vgl. etwa Senat BGHZ 85, 212, 215 ff. m.w.N.). Dabei ist unter einem groben Behandlungsfehler ein eindeutiger Verstoß gegen bewährte ärztliche Behandlungsregeln oder gesicherte medizinische Erkenntnisse zu verstehen, also ein Fehler, der aus objektiver Sicht nicht mehr verständlich erscheint, weil er einem Arzt schlechterdings nicht unterlaufen darf (vgl. Senatsurteil vom 4. Oktober 1994 – VI ZR 205/93VersR 1995, 46, 47).

8
Das Berufungsgericht erblickt einen groben Behandlungsfehler darin, daß der Beklagte nach der Injektion des Neuroleptikums und der Verabreichung von Atosil versäumt habe, trotz der akuten und ungeklärten Verschlechterung des psychischen Zustandes der Klägerin für deren Schutz Sorge zu tragen. In diesem Zusammenhang macht das Berufungsgericht dem Beklagten zum Vorwurf, daß er es unterlassen habe, die Eltern der Klägerin anzuweisen, ihre Tochter ständig zu beobachten und zu beaufsichtigen. Ein weiteres Versäumnis sieht das Berufungsgericht darin, daß er es unterlassen habe, die Einweisung der Klägerin in eine psychiatrische Klinik zu veranlassen.

9
Die gegen diese Erwägungen gerichteten Verfahrensrügen der Revision sind zum Teil begründet.

10
a) Zwar hat die Revision keinen Erfolg mit ihrem Angriff dagegen, daß das Berufungsgericht dem Antrag des Beklagten auf eine erneute Vernehmung der Eltern der Klägerin zur Frage der Beaufsichtigung und seinem Antrag auf Parteivernehmung gemäß § 448 ZPO nicht entsprochen hat. Ob es zu einer wiederholten Zeugenvernehmung kommt, beurteilt der Tatrichter nach pflichtgemäßem Ermessen (§ 398 Abs. 1 ZPO). Es ist nicht erkennbar, daß das Berufungsgericht sein Ermessen fehlerhaft ausgeübt hätte. Die Eltern der Klägerin haben – wie die Revision nicht verkennt – in ihrer erstinstanzlichen Vernehmung in aller Klarheit als Zeugen ausgesagt, daß der Beklagte nicht erklärt habe, sie müßten auf ihre Tochter aufpassen. Ebenso ist nicht ersichtlich, daß dem Berufungsgericht bei der Anwendung des § 448 ZPO ein Fehler unterlaufen wäre. Die Parteivernehmung setzt voraus, daß für die Wahrheit der unter Beweis gestellten Behauptung eine gewisse Wahrscheinlichkeit besteht; von diesem Erfordernis Abstriche zu machen, rechtfertigt auch die Beweisnot des Beklagten nicht, auf die sich die Revision beruft (vgl. BGH, Urteil vom 25. März 1992 – IV ZR 54/91VersR 1992, 867, 868 m.w.N.). Auf der Grundlage des ihm vorliegenden Prozeßstoffs bestand für das Berufungsgericht kein Anlaß zur Bejahung der für die Anwendung des § 448 ZPO erforderlichen Anfangswahrscheinlichkeit. Die Revision zeigt auch keine in diese Richtung zielenden Gesichtspunkte auf.

11
b) Die Revision wendet sich aber mit Recht dagegen, daß das Berufungsgericht dem Beklagten im Rahmen der Würdigung seines ärztlichen Vorgehens als grob fehlerhaft ohne weitere Beweiserhebung zum Vorwurf macht, die Einweisung der Klägerin in eine psychiatrische Klinik unterlassen zu haben. Die in der ersten Instanz durchgeführte Beweisaufnahme, auf die sich das Berufungsgericht bezieht, bot für diesen Vorwurf keine ausreichende Grundlage. Die Zeugen haben sich zur Frage der Klinikeinweisung der Klägerin nicht geäußert. Erst im zweiten Rechtszug nahmen die Parteien zu diesem Thema streitig Stellung. Der Beklagte behauptete unter Beweisantritt, er habe die Notwendigkeit einer Klinikeinweisung der Klägerin gegenüber deren Eltern angesprochen; die Eltern der Klägerin hätten deren Einweisung in ein psychiatrisches Krankenhaus jedoch abgelehnt. Diese Behauptung erweist sich im Hinblick darauf als erheblich, daß die Eltern der Klägerin in dieser Situation, in der die Klägerin zu selbständigen sachgerechten Entscheidungen offensichtlich nicht imstande war, gegenüber dem Beklagten als Gesprächsführer für ihre Tochter auftraten. Ist sie wahr, dann könnte der gegen den Beklagten erhobene Vorwurf entfallen. Das Berufungsgericht war deshalb, bevor es diesen Vorwurf für die Einstufung des Verhaltens des Beklagten als grob fehlerhaft heranzog, verpflichtet, gemäß dem Gebot der Erschöpfung der Beweismittel aus § 286 Abs. 1 ZPO dem Beweisantrag des Beklagten zu entsprechen.

12
2. Außerdem findet, wie die Revision weiter zutreffend geltend macht, die Bewertung der vom Berufungsgericht angenommenen Versäumnisse des Beklagten als grober Behandlungsfehler in dem Sachverständigengutachten keine tragfähige Stütze.

13
Allerdings hat der Sachverständige in seinem Ergänzungsgutachten die Versäumnisse des Beklagten (weder Anweisung an die Eltern zur ständigen Beobachtung der Klägerin noch deren Einweisung in eine psychiatrische Klinik) aus ärztlicher Sicht als schwer eingestuft. Diese Wertung des Sachverständigen setzt indes voraus, daß der Beklagte die Suizidgefährdung der Klägerin erkannt hat. Davon kann jedoch nicht ausgegangen werden. Der Beklagte hat geltend gemacht, daß für die Annahme einer Suizidgefährdung der Klägerin keine Anhaltspunkte bestanden hätten. Auch der Sachverständige legt seinen Erwägungen letztlich wohl zugrunde, daß der Beklagte die Suizidgefährdung der Klägerin nicht erkannt hat. Damit kommt es für die Beweislastumkehr in der Kausalitätsfrage darauf an, ob dem Beklagten deshalb ein grober Behandlungsfehler unterlaufen ist, weil er die Suizidgefährdung der Klägerin nicht erkannt hat. Hierzu führt der Sachverständige lediglich aus, daß der Beklagte unabhängig von dem Ergebnis einer Exploration schon aufgrund der Feststellung des schlechten psychischen Zustandes der Klägerin an eine Suizidgefährdung hätte denken müssen. Diese gutachterliche Stellungnahme rechtfertigt noch nicht die Bejahung eines groben Behandlungsfehlers im oben dargelegten Sinn.

III.

14
Das Berufungsurteil war deshalb aufzuheben und die Sache an das Berufungsgericht zurückzuverweisen, um ihm Gelegenheit zu geben, die erforderlichen weiteren Feststellungen zu treffen.

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